Die Zuschauer in Mexiko-Stadt jubelten und begleiteten jeden seiner Sprünge mit einem begeisterten »Olé«. Sie waren fasziniert von Dick Fosbury, dem legendären amerikanischen Hochspringer, der mit einer neuen Sprungtechnik alle Konkurrenten überflügelte und bei den Olympischen Spielen 1968 die Goldmedaille gewann.
Mit den bis dahin genutzten Methoden kam Richard Douglas Fosbury, so sein vollständiger Name, nicht zurecht. Beharrlich entwickelte der angehende Ingenieur seine eigene Technik, um die Latte zu überwinden. Der nach ihm benannte Fosbury Flop wurde zum Standard und wird in leichten Abwandlungen bis heute im Hochsprung eingesetzt.
Fosburys unbedingter Wille, das Hindernis zu überwinden, ist auch heute noch bewundernswert. Das ist echter Sportsgeist. Das ist die Lust am Wettbewerb und an der Herausforderung. Was uns im Sport zu Begeisterungsstürmen hinreisst, ist allerdings dazu prädestiniert, uns im privaten und beruflichen Alltag das Leben schwer zu machen. Niemand möchte und sollte dazu gezwungen sein, vermeidbare Hindernisse überwinden zu müssen, um an sein Ziel zu kommen. Das raubt uns Zeit und Energie. Wir ärgern uns und geben im Zweifelsfall frustriert auf. Solche Situationen kennen wir alle.
Wie ungleich anstrengender und schwerer ist es dann für Menschen mit einer Behinderung, im Alltag zurechtzukommen? Wenn Menschen mit einem Handicap sich zunächst immer damit auseinandersetzen müssen, wie sie eine Barriere überwinden, bevor sie überhaupt daran denken können, ihre eigentliche Aufgabe oder ihr Ziel anzugehen. Kaum jemand, der nicht direkt betroffen ist, macht sich darüber Gedanken, geschweige denn, dass er das Problem nachfühlen kann. Für Menschen ohne Behinderung existieren diese Barrieren in der Regel nicht.
Barrierefreiheit ist daher eine richtige Forderung und ein wichtiges Ziel. Dies gilt zunächst einmal für die physische Umgebung, in der wir uns bewegen. Sie ist jedoch ebenso bedeutsam für die digitale Welt. Ein barrierefrei zugängliches Internet und Intranet, über das wir uns nicht nur ein paar Informationen beschaffen, sondern längst einen beträchtlichen Teil unseres privaten und beruflichen Lebens regeln, ist daher unerlässlich – sei es für »Behördengänge«, Käufe in Online Shops oder im digitalen Arbeitsbereich eines Unternehmens.
Unsere Bundesverfassung hält fest, dass niemand aufgrund seiner Behinderung diskriminiert werden darf. In der Schweiz ist seit dem Jahr 2004 daher das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) in Kraft. Das Gesetz regelt die Dienstleistungen des Gemeinwesens und legt fest, dass diese barrierefrei für Menschen mit Behinderungen zugänglich sein müssen.
Für den barrierefreien Zugang zu den Angeboten im Internet sind vier Zertifikatsstufen festgelegt worden:
- A (grundlegende Barrierefreiheit): z. B. Navigation und Inhalt sind mit der Tastatur bedienbar, Inhalte sind vom Screen-Reader lesbar
- AA (Profi-Niveau): z. B. die zusätzliche Möglichkeit, Kontraste zu ändern
- AA+: zusätzliche Optimierungen wie Navigationsmöglichkeiten in PDF (Dokumente in Standard-PDF-Format sind oft nicht navigierbar)
- AAA (Experten-Niveau): z. B. Übersetzung sämtlicher Inhalte in einfache oder leichte Sprache sowie in Gebärdensprache
Barrierefreie Webseiten werden von den Suchmaschinen-Algorithmen besser bewertet als konventionelle Seiten. Man sollte meinen, dass allein dieser Vorteil zumindest kommerzielle Webseitenbetreiber dazu veranlasst hat, ihre Seiten entsprechend umzustellen.
So weit die Theorie. Doch wie sieht es in der Praxis bisher tatsächlich aus? Wie ist die Lage speziell in der Schweiz? Dazu heisst es in der Aargauer Wirtschaft AGV Nr. 4 vom April 2018: »Das Projekt steht ganz am Anfang und das Potential ist nach wie vor gross … In den letzten zwei Jahren wurden in der Schweiz erst 17 (!) Websites auf den Stufen AA, AA+ oder AAA zertifiziert. Hinzu kommen eine Handvoll Websites, die barrierefrei, aber nicht zertifiziert sind. Bei den Newsportalen sind es laut Accessability-Studie nur drei, die barrierefrei sind, alle anderen sind schlecht bis unbrauchbar.«
Das ist gleichermassen erstaunlich wie erschütternd. Das Gesetz, welches die Barrierefreiheit regelt, gibt es nun seit 15 Jahren, aber die Zahl der Webseiten, die eine der Zertifikatsstufen erfüllen, ist kaum erwähnenswert. Es ist kaum nachzuvollziehen, warum die Umsetzung des Ziels derart schleppend verläuft. Allein der volkswirtschaftliche Schaden, der dadurch entsteht, dass man eine ganze Bevölkerungsgruppe aus der Teilhabe, auch an der Arbeitswelt, ausschliesst, muss immens sein.
Barrierefreiheit nutzt allen Menschen, denen mit und denen ohne eine Behinderung. Hierzu nur zwei einleuchtende Beispiele:
- Texte in leichter Sprache, die zudem noch bebildert sein können. Diese helfen auch Menschen, die nicht oder kaum lesen können oder Menschen, die die Sprache kaum sprechen.
- Unser Umgang mit digitalen Medien und unsere Arbeitsgewohnheiten, bei denen viele von uns Bildschirme nutzen, haben sich in den vergangenen Jahrzehnten radikal verändert. Das hat, wie umfangreiche Studien inzwischen festgestellt haben, erhebliche Auswirkungen auf unsere Sehleistung. Viele dieser, zum Teil noch jungen Menschen werden von einer schwächer werdenden Sehleistung betroffen sein oder sind es bereits. Gut lesbare Angebote und Nutzeranwendungen werden auch sie zu schätzen wissen.
Es gibt immens viel zu tun. Tun wir es ab heute! Bauen wir die Barrieren ab! Draussen in der Welt und drinnen in unseren Köpfen.
Ihr Guido Roos